Sonntag, 17. April 2022

Tous vas bien, mon ami ...

update: Enzo hat es nicht geschafft. Er ist noch am selben Abend gestorben. 


Der Stier trabte schnurstracks in die Mitte der Arena und scharrte mit seinen Hufen den roten Sand auf und brüllte. Misstrauisch beäugte er die weiß gekleideten Razzeteure, die sich nun vorsichtig näherten. Der Course camarguaise hat nichts mit dem spanischen Stierkampf gemein. Hier geht es um den Zweikampf zwischen dem Stier, der an seinen Hörnern Kokarden trägt, und dem Razzeteur, der eben diese Kokarden von dem Hörnern des Stieres holen will. Unbändige Kraft gegen drahtige Geschmeidigkeit, menschliche Intelligenz gegen archaische Reflexe des Stiers, der seine Kraft darauf verwendet, die Razzeteure zu verfolgen, seine Hörner in die Bande hämmert, über die seine Gegner gerade entkommen sind - oder auch mal selbst über die Bande springt. 



Aber dieser Stier war anders. Er blieb in der Mitte der Arena und verfolgte die Bemühungen der Razzeure nur mit wütendem Brüllen und herausforderndem Scharren. Es war klar, dass er das Spiel kannte und wusste, sie würden kommen. Zu ihm.  

Einer der ersten, der sich bis in die Mitte der Arena wagte, war Enzo. Als erfahrener Razzeteur wusste er, dass der Stier sich nicht auf die bekannten Strategien einlassen würde. Enzo kam nur auf 2 Meter an den schwarzen Koloss heran, der sofort seine Gelegenheit erkannte und mit einer für seine Tonnen erstaunlichen Geschwindigkeit durchstartete. Er war Enzo direkt auf den Fersen, als dieser den Fuss auf die Bande setzte und sich Richtung rettender Balustrade schwang. Das Publikum hielt den Atem an. Enzo strauchelte kurz und hing dann für einen Bruchteil der Sekunde in der Luft. Das reichte dem Stier. Er sprang hinter dem Razzeteur her und erreicht ihn just in diesem Moment, als er die Balustrade zu fassen bekam. Mit vollem Gewicht schmetterte er Enzo an die Mauer. Wie er es danach schaffte, noch über die Balustrade zu kommen, lässt sich wohl nur mit einer Überdosis Adrenalin erklären. Danach brach er zusammen ... und die Menschen in der Arena begannen zu begreifen, was passiert war. 

Der Stier war auf seinen Platz in der Mitte der Arena zurückgekehrt und brüllte und scharrte. Doch niemand konnte seine Aufmerksamkeit von der Stelle abwenden, wo Enzo zusammengebrochen war. Seine Kameraden waren bei ihm, auch der Wettkampfleiter, jemand brachte eine Trage und eine Sauerstoffflasche. Es sah deutlich so aus, dass Herzlungen-Wiederbelegung erforderlich geworden war.

Roman, der Freund meiner Tochter, eigentlich Neurochirurg, hatte zum Glück gerade eine Fortbildung als Notarzt gemacht. Als erkennbar war, dass hier niemand so richtig einen Plan hatte, stand er auf und ging zum Verletzten. Endlich öffnete auch jemand die Tür zum Toril und liess den Stier aus der Arena. Nach einer fassungslosen Weile sahen wir. dass Enzo nun auf eine Trage gelegt und in den Innenbereich der Arena gebracht wurde. Roman war an seiner Seite. Meine Tochter und ich sahen uns an, hatten Tränen in den Augen, wussten nicht, ob der junge Mann noch lebte. Eine Dreiviertel Stunde nach dem Unglück kam endlich die Durchsage, dass Enzo stabil sei. Später hörte man einen Helikopter, der über der Arena kreiste und dann am Hafen landete. Fast eine Stunde war mittlerweile vergangen. Roman gesellte sich wieder zu uns, auch ziemlich geschockt und gezeichnet von seinem Einsatz. Nur erfuhren wir aus erster Hand, dass Enzo nach seinem Pneumothorax stabilisiert werden konnte und gute Aussichten auf völlige Genesung hat. Roman meinte, er hatte nicht viel tun können außer Zugang legen und alles überwachen. Und er hielt Enzos Hand und sage: "Tout va bien, mon ami". 




Der Course camarguaise wurde dann abgebrochen. 

Im zarten Alter von 11 Jahren nahmen meine Eltern mich und meinen Bruder mit in ihr "gelobtes Land". Damals hatten wir ein Zelt und ich eine undichte Luftmatratze. Essen gehen konnten wir uns nicht leisten, es gab Orangina und Pizza aus dem Straßenverkauf. Das kleine blonde Mädchen verliebte sich unsterblich in einen blonden Guardian, der auf seinem weißen Pferd immer am Campingplatz vorbei ritt und die unvergleichlichen Farben und das Licht des Süden. Die Schwärmerei für den jungen Mann verblasste schnell, aber die Liebe zur Camargue zog mich immer wieder in das wilde Land der schwarzen Stiere, der weißen Pferde, der rosa Flamingos und unzähliger Vogelarten. Insgesamt war ich weit über 20 Mal im unserem gelobten Land. Immer dabei bei allen Reisen waren meine Eltern. Alle ihre Enkel haben hier die ersten Schritte gemacht und laufen gelernt. Jeder Platz ist voll von Erinnerungen. Ich war mir fast sicher gewesen, dass ich nach dem Tod der beiden keinen Schritt mehr in die Camargue setzen würde. Aber Charlotte, meine Jüngste, wollte ihren Geburtstag dort feiern, ihrem Roman alles zeigen und auch meine Älteste wollte so gerne mal wieder ins Rhonedelta. Da unter dem neuen Betreiber des Camping La Brise pro Mobilhome nur je ein Hund erlaubt ist und mein Mann die 1000 Kilometer nicht für eine Woche mit dem Hänger fahren wollte, durfte nur Jaro mit ans Meer.  




Als ich in der Nacht zum 9. April aus dem Fenster blickte, traute ich kaum meinen Augen. Überall Schnee. Und es schneite immer weiter. Gegen 2 hörte es auf zu schneien und wir beschlossen, wir starten jetzt. In Darmstadt war kein Schnee mehr, dafür ab Heidelberg wieder bis fast nach Bruchsal. Die Überholspur war komplett vereist, die ersten Schneeräummaschinen waren im Einsatz und sprühten Funken mit ihren Schaufeln auf dem Asphalt. Nach Freiburg wurde es trotz Kaffee immer schwerer, wach zu bleiben. Trotz der Pausen, damit Jaro die Füße vertreten konnte und Frauchen den Wachzustand aktivieren, erreichten wir gegen Mittag Arles und fuhren dann über Le Sambuc die Ostrandtour. Wetter war herrlichst. Am Wasserwerk sahen wir Braune Sichler, Bruchwasserläufer und Flussuferläufer, Purpurreiher und natürlich alles an Möwen. Auf dem Weg nach Maries erfuhren wir dann, dass der Check-in im Mobilhome tatsächlich erst um 16 Uhr möglich war. Also ließen wir uns Zeit und tranken im Maries dann noch ein Bierchen. Mobilhome-Nachbarn waren Charlotte und Roman, Piti und Mag waren auch nicht weit weg und ich ging erst mal mit Jaro ans Meer. Danach war ich froh, einen guten Bademantel für ihn zu haben ...




Abendessen im Tamaris an der Kirche. Soup Poissant, Gardian le Toraux und Mousse au Chocolat. Dazu Vin und davor Pastis. Im übernächsten Lokal war dann Livemusik mit einer Flamenco-Tänzerin. Wir machten Party auf der Straße mit Mojito und auf dem Heimweg übte ich mit Jaro noch "Zu" und "Weg" auf dem Marktplatz ... 




Am nächsten Morgen ging es dann gleich wieder ans Meer ... und so trieben wir durch die Tage. Ich freu mich auf September. Wir werden diesmal alle nach Maries fahren - auch Peter, Hope und die Shelties. Dafür dann ein bisschen länger ... tout vas bien, mon ami.



Donnerstag, 7. April 2022

Und plötzlich ist nichts mehr, wie es war oder wie es sein sollte ...

"Ich bin irgendwo an einem mentalen und emotionalen Punkt im Niemandsland angekommen, wo ich vollständig orientierungslos bin. Ich dachte, Fly hätte mir alles über Hunde beigebracht. Aber wenn sich die Schwierigkeit nach Außen richtet, kann man ganz anders damit arbeiten. Aber die Probleme zwischen Jaro und Myway beeinträchtigen meine Lebensqualität rund um die Uhr. Genau genommen ist das kein Leben mehr. Es zerreißt mich. Es nimmt mir Kraft, die ich nach dem Tod von Fly und meinen Eltern nicht habe. Ich frage mich die ganze Zeit, wie ich mich auf den Urlaub mit Jaro, auf das Seminar freuen soll, wenn ich gar nicht weiß, ob es wirklich Sinn macht, ihn bei mir zu behalten. Er ist noch so jung und kann ein tolles Leben haben, von dem ich gerade nicht weiß, ob ich ihm das bieten kann. Ich frage mich, was ich fühlen würde, wenn Jaro nicht mehr da wäre. Ihn wegzugeben wäre Scheitern. Irgendwie bin ich noch nie so wirklich gescheitert bis jetzt ..."

Dieses Statement habe ich Ende Januar geschrieben. Vorangegangen war eine heftige Auseinandersetzung zwischen  Jaro und Myway an Heiligabend. Ich kann diese Bilder immer noch nicht aushalten, obwohl letztendlich nichts passiert ist. Also keine sichtbaren Wunden (außer Peters Finger als Myway ihn getackert hat beim Versuch, die zwei zu trennen). Emotional waren wir alle im völlig verstört. 

Mein Versuch, mit den beiden mit Maulkorb spazieren zu gehen, endete in einer wilden Beißerei - zum Glück haben die Maulkörbe gehalten. 

Während ich den Vorfall an Heilig Abend eher Myway zuschreibe, war es hier definitiv Jaro, der Myway gestellt und angegriffen hat. 

Warum ich das nun alles schreibe? Zum einen dient es dazu, so einiges endlich mal zu verarbeiten. Zum anderen hilft es vielleicht anderen, die in ähnliche Situationen kommen.

Mich von Jaro zu trennen, wäre das Zweitschlimmste auf der Welt gewesen. Denn Myway wegzugeben, war völlig undenkbar. Er wäre vermutlich nirgendwo auf der Welt wieder wirklich glücklich geworden. Und ich ohne ihn auch nicht. Myway ist und bleibt halt unser kleiner Prinz.

Die einzige Alternative war kompetentes Training. Mir war mittlerweile doch klar geworden, dass ich Jaro gerade bei seinem Hüteverhalten viel früher hätte entgegen treten müssen. Und auch bei den Shelties lag einiges im Argen - diese Kläfferei nervte schon extrem. 

Als erstes buchte ich einen Onlinekurs "Hunde richtig führen" bei Linda Sikorski. Das war schon ein echter Augenöffner zu merken, dass mir mein Rudel ganz charmant auf der Nase herumtanzte. Aber auch, wie schnell man mit konsequentem Eingreifen eingefahrene Verhaltensmuster ändern kann. Den Shelties flogen so einige Flaschen um die Ohren - seitdem ist es ruhiger. Gerade Lasse würde ich allerdings nur mit einer Stimmband-OP endgültig zum verstummen bringen ...

Dann bekam ich doch den Termin bei Rico Haffner, den sie ja alle "den Besten" nennen. Kann ich mittlerweile voll bestätigen. Und seine erste Frage war tatsächlich: Wie viel bist du bereit auszuhalten und zu investieren (nicht nur finanziell) um beide Hunde zu halten? Meine Antwort: Alles, oder zumindest fast alles. Wenn es für alle Menschen und Hunde eine echte Perspektive gibt. 

Bei unserem erstem Termin stellte sich schnell heraus, dass Jaro und Myway sich zwar noch recht suspekt waren, aber keine echte Aggression zu spüren war. Das gab dann auch den Ausschlag, weiterzumachen. 

Rico brachte mir nun alles bei, was Fly irgendwie übersehen hatte. Körpersprache. Souveränität.  Bruce Willis. 

Ich war nie besonders autoritär. Weder bei meinen Hunden, noch meinen Kindern oder dem Rest der Welt. Wenn mir mal was nicht passt, bin ich eben zickig. Hat bis jetzt funktioniert - womit klar ist, dass mir diese kleine haarigen Biester mal wieder was beibringen wollen ...

Aber da habe ich schon sehr dazu gelernt. Selbst ein fast verhungertes Sheltie kann ich wortlos aus der Küche scheuchen ... Bei Jaro ist das alles eh überflüssig. "Ich soll aus der Küche? Okay. Ich soll vom Sofa? Kein Problem? - Wobei auch Jaro mich wesentlich ernster nimmt bei meinen Ansagen ...

Das nächste Standbein war dann eher esoterisch. Pia Schmitt hat mit Jaro und Myway mal "gesprochen". Und letztendlich hat das mein eigenes Bauchgefühl bestätigt. Jaro ist schon klar, dass er falsch reagiert hat - und Myway fühlt sich völlig im recht. 

Also weiter trennen. Die ersten Spaziergänge mit Maulkorb waren Stress pur für mich. Adrenalinschock - obwohl nichts passiert ist. 

Dann Spaziergänge mit Freilauf. Nie war auch nur ein Hauch von Aggression oder Aversion zu spüren.

Letztes Wochenende dann Indoor-Begegnung mit Maulkorb.

Heute der erste Spaziergang ohne Maulkorb, wobei ich die beiden nur abwechselnd im Freilauf hatte. 

Zurück dann drinnen alle ohne Maulkorb. Jaro wirft sich auf den Rücken um sich den Bauch kraulen zu lassen. Myway stand direkt daneben. 

Ich denke, wir sind auf einem sehr guten Weg.