update: Enzo hat es nicht geschafft. Er ist noch am selben Abend gestorben.
Der Stier trabte schnurstracks in die Mitte der Arena und scharrte mit seinen Hufen den roten Sand auf und brüllte. Misstrauisch beäugte er die weiß gekleideten Razzeteure, die sich nun vorsichtig näherten. Der Course camarguaise hat nichts mit dem spanischen Stierkampf gemein. Hier geht es um den Zweikampf zwischen dem Stier, der an seinen Hörnern Kokarden trägt, und dem Razzeteur, der eben diese Kokarden von dem Hörnern des Stieres holen will. Unbändige Kraft gegen drahtige Geschmeidigkeit, menschliche Intelligenz gegen archaische Reflexe des Stiers, der seine Kraft darauf verwendet, die Razzeteure zu verfolgen, seine Hörner in die Bande hämmert, über die seine Gegner gerade entkommen sind - oder auch mal selbst über die Bande springt.
Aber dieser Stier war anders. Er blieb in der Mitte der Arena und verfolgte die Bemühungen der Razzeure nur mit wütendem Brüllen und herausforderndem Scharren. Es war klar, dass er das Spiel kannte und wusste, sie würden kommen. Zu ihm.
Einer der ersten, der sich bis in die Mitte der Arena wagte, war Enzo. Als erfahrener Razzeteur wusste er, dass der Stier sich nicht auf die bekannten Strategien einlassen würde. Enzo kam nur auf 2 Meter an den schwarzen Koloss heran, der sofort seine Gelegenheit erkannte und mit einer für seine Tonnen erstaunlichen Geschwindigkeit durchstartete. Er war Enzo direkt auf den Fersen, als dieser den Fuss auf die Bande setzte und sich Richtung rettender Balustrade schwang. Das Publikum hielt den Atem an. Enzo strauchelte kurz und hing dann für einen Bruchteil der Sekunde in der Luft. Das reichte dem Stier. Er sprang hinter dem Razzeteur her und erreicht ihn just in diesem Moment, als er die Balustrade zu fassen bekam. Mit vollem Gewicht schmetterte er Enzo an die Mauer. Wie er es danach schaffte, noch über die Balustrade zu kommen, lässt sich wohl nur mit einer Überdosis Adrenalin erklären. Danach brach er zusammen ... und die Menschen in der Arena begannen zu begreifen, was passiert war.
Der Stier war auf seinen Platz in der Mitte der Arena zurückgekehrt und brüllte und scharrte. Doch niemand konnte seine Aufmerksamkeit von der Stelle abwenden, wo Enzo zusammengebrochen war. Seine Kameraden waren bei ihm, auch der Wettkampfleiter, jemand brachte eine Trage und eine Sauerstoffflasche. Es sah deutlich so aus, dass Herzlungen-Wiederbelegung erforderlich geworden war.
Roman, der Freund meiner Tochter, eigentlich Neurochirurg, hatte zum Glück gerade eine Fortbildung als Notarzt gemacht. Als erkennbar war, dass hier niemand so richtig einen Plan hatte, stand er auf und ging zum Verletzten. Endlich öffnete auch jemand die Tür zum Toril und liess den Stier aus der Arena. Nach einer fassungslosen Weile sahen wir. dass Enzo nun auf eine Trage gelegt und in den Innenbereich der Arena gebracht wurde. Roman war an seiner Seite. Meine Tochter und ich sahen uns an, hatten Tränen in den Augen, wussten nicht, ob der junge Mann noch lebte. Eine Dreiviertel Stunde nach dem Unglück kam endlich die Durchsage, dass Enzo stabil sei. Später hörte man einen Helikopter, der über der Arena kreiste und dann am Hafen landete. Fast eine Stunde war mittlerweile vergangen. Roman gesellte sich wieder zu uns, auch ziemlich geschockt und gezeichnet von seinem Einsatz. Nur erfuhren wir aus erster Hand, dass Enzo nach seinem Pneumothorax stabilisiert werden konnte und gute Aussichten auf völlige Genesung hat. Roman meinte, er hatte nicht viel tun können außer Zugang legen und alles überwachen. Und er hielt Enzos Hand und sage: "Tout va bien, mon ami".
Der Course camarguaise wurde dann abgebrochen.
Im zarten Alter von 11 Jahren nahmen meine Eltern mich und meinen Bruder mit in ihr "gelobtes Land". Damals hatten wir ein Zelt und ich eine undichte Luftmatratze. Essen gehen konnten wir uns nicht leisten, es gab Orangina und Pizza aus dem Straßenverkauf. Das kleine blonde Mädchen verliebte sich unsterblich in einen blonden Guardian, der auf seinem weißen Pferd immer am Campingplatz vorbei ritt und die unvergleichlichen Farben und das Licht des Süden. Die Schwärmerei für den jungen Mann verblasste schnell, aber die Liebe zur Camargue zog mich immer wieder in das wilde Land der schwarzen Stiere, der weißen Pferde, der rosa Flamingos und unzähliger Vogelarten. Insgesamt war ich weit über 20 Mal im unserem gelobten Land. Immer dabei bei allen Reisen waren meine Eltern. Alle ihre Enkel haben hier die ersten Schritte gemacht und laufen gelernt. Jeder Platz ist voll von Erinnerungen. Ich war mir fast sicher gewesen, dass ich nach dem Tod der beiden keinen Schritt mehr in die Camargue setzen würde. Aber Charlotte, meine Jüngste, wollte ihren Geburtstag dort feiern, ihrem Roman alles zeigen und auch meine Älteste wollte so gerne mal wieder ins Rhonedelta. Da unter dem neuen Betreiber des Camping La Brise pro Mobilhome nur je ein Hund erlaubt ist und mein Mann die 1000 Kilometer nicht für eine Woche mit dem Hänger fahren wollte, durfte nur Jaro mit ans Meer.
Als ich in der Nacht zum 9. April aus dem Fenster blickte, traute ich kaum meinen Augen. Überall Schnee. Und es schneite immer weiter. Gegen 2 hörte es auf zu schneien und wir beschlossen, wir starten jetzt. In Darmstadt war kein Schnee mehr, dafür ab Heidelberg wieder bis fast nach Bruchsal. Die Überholspur war komplett vereist, die ersten Schneeräummaschinen waren im Einsatz und sprühten Funken mit ihren Schaufeln auf dem Asphalt. Nach Freiburg wurde es trotz Kaffee immer schwerer, wach zu bleiben. Trotz der Pausen, damit Jaro die Füße vertreten konnte und Frauchen den Wachzustand aktivieren, erreichten wir gegen Mittag Arles und fuhren dann über Le Sambuc die Ostrandtour. Wetter war herrlichst. Am Wasserwerk sahen wir Braune Sichler, Bruchwasserläufer und Flussuferläufer, Purpurreiher und natürlich alles an Möwen. Auf dem Weg nach Maries erfuhren wir dann, dass der Check-in im Mobilhome tatsächlich erst um 16 Uhr möglich war. Also ließen wir uns Zeit und tranken im Maries dann noch ein Bierchen. Mobilhome-Nachbarn waren Charlotte und Roman, Piti und Mag waren auch nicht weit weg und ich ging erst mal mit Jaro ans Meer. Danach war ich froh, einen guten Bademantel für ihn zu haben ...
Abendessen im Tamaris an der Kirche. Soup Poissant, Gardian le Toraux und Mousse au Chocolat. Dazu Vin und davor Pastis. Im übernächsten Lokal war dann Livemusik mit einer Flamenco-Tänzerin. Wir machten Party auf der Straße mit Mojito und auf dem Heimweg übte ich mit Jaro noch "Zu" und "Weg" auf dem Marktplatz ...
Am nächsten Morgen ging es dann gleich wieder ans Meer ... und so trieben wir durch die Tage. Ich freu mich auf September. Wir werden diesmal alle nach Maries fahren - auch Peter, Hope und die Shelties. Dafür dann ein bisschen länger ... tout vas bien, mon ami.